Vor dem Hintergrund meiner kriminologischen Analysen und der jahrzehntelangen forensisch-psychotherapeutischen Arbeit mit Schwerstkriminellen widmet sich dieser Abschnitt für interessierte Leser der Gefahr und dem Phänomen von Tötungsdelikten.
Angesichts vieler dramatischer Ereignisse in den letzen Jahren stehen vorallem Tötungen im öffentlichen Raum im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Tötungen im sozialen Nahraum - also in privaten oder auch beruflichen Beziehungen - haben häufig nur eine geringe Nachhaltigkeit in der öffentlichen und medialen Erinnerung.
Nachfolgend werden hier verschiedene Begrifflichkeiten und Phänomene von Tötung beschrieben:
(Sogenannte) Amoktaten
"Amok" ist letztlich ein vereinfachender Begriff, um dramatische Taten, Gefährdungen und Mehrfachtötungen, sowie deren Hintergründe zu beschreiben. Meist handelt es sich nicht um ein explosionsartigen aggressiven Ausbruch eines Menschen, sondern meist um eine planmäßige Bestrafungs- oder Racheaktion. Der sog. homizidal-suizidale Einzeltäter wählt den plötzlichen Angriff auf mehrere Menschen im öffentlichen Raum. Der Täter stattet sich mit Waffen - meist Schusswaffen aus; er hat in der Regel eine klare Tötungsintention; sein plötzlicher Angriff richtet sich gegen gezielt wie zufällig ausgewählte, meist extrafamiliäre Opfer, die angesichts der Aktionsmacht des zum Suizid bereiten Akteurs kaum Möglichkeiten zur Gegenwehr haben (vgl. Weilbach 2004). Meist handelt es sich um zielgerichtete Gewalt mit einem "Jagdmodus" - frei von : akutem Stress und von Fluchtimpulsen, wie sie beim "Verteidigungsmodus" vorzufinden wären (Hoffmann 2003).
Finden solche Taten im Kontext mit der Schule statt, wird von Schulamok oder "school-shooting" gesprochen. Hierzu wird das praktisch orientierte Fachbuch der Kollegen Robertz & Wickenhäuser empfohlen: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule (2010).
Mehrfachtötungen (inkl. Terroranschläge)
Amokartige Tötungsereignisse, terroristische Anschläge und Attentate spiegeln auf hochdramatische Art die totale Aktionsmacht des Täters über ein Geschehen und die betroffenen Menschen wider.
Die Dynamik dieser Art der Mehrfachtötung lässt sich wie folgt skizzieren:
Angriffsmodus:
Der Täter richtet sich, scheinbar unvermittelt und ohne Vorwarnung, gegen andere Menschen. Er allein produzent den überfallartigen Angriffs und versucht er, die Kontrolle über Situation und Handlung an sich zu reißen. Der Geschehensablauf ist von der Wucht und Schnelligkeit seines Gewalthandelns geprägt. Zugleich steht der Täter unter Handlungsdruck.
Wehrlosigkeit der Opfer:
Die Unvorhersehbarkeit seiner Aktion bringt mehrere Opfer in eine nahezu ausweglose Situation. Die Opferauswahl des Täters kann gezielt oder zufällig sein. Das Gewaltgeschehen kann Menschen treffen, die in direkter oder indirekter Beziehung zum Täter stehen, oder ohne den Täter zu kennen, zufällig involviert werden. Der Täter lässt den Opfern keine Chance, seiner situationalen Allmacht zu entkommen. Wegen der „Waffenungleichheit“ sind Abwehr und Verteidigung der unmittelbaren, akuten oder über eine gewisse Zeitdauer hinweg andauernden Gefahr für die Betroffenen nahezu unmöglich.
Stress:
Die Tatsituation stellt eine Stresssituation für alle Beteiligten – Täter wie Opfer - dar. Deren Stress-Stabilität ist unter den Faktoren von Zeit- und Aktionsdruck bzw. Angst gefährdet oder herabgesetzt ist.
Interventionsdruck der Sicherheitsorgane:
Das Ungleichgewicht zwischen Opfern und Täter kann in der Regel nur durch Intervention von außen aufgelöst werden, also durch den massiven Einsatz von Polizeidienstkräften.
Finale Tötungsaktion:
Am Ende der ganz oder teilweise ausgelebten Aktionsmacht tötet sich der Täter gerade beim sogenannten "Amok" oder bei (auch in Gruppen begangenen) extremistischen Anschlägen meist selbst oder er lässt sich - im Sinne eines Abdelegierens der Selbsttötung - von der Polizei oder anderen töten.
Tötungen im sozialen Nahraum
Von der tödlichen Gewalt bedroht oder betroffen sind insbesondere Menschen aus dem sozialen Nahraum: PartnerInnen und Familienmitglieder, jedoch auch Personen, denen ein Gefährder in anderen sozialen Beziehungsverhältnissen nahestand. Da Einem dramatischen Geschehen bis hin zur Tötung in der Regel vielfältige Krisen, Drohungsszenarien und Schädigungsaktionen vorausgehen, könnte mehr Sensibilität für solche Konflikte und gefährliche Szenarien präventiv wirken. Die Verhütung nachfolgender Tötungsformen bedürfte einer erhöhten Aufmerksamkeit des sozialen Umfelds bzw. involvierter staatlicher Organe:
Partnertötungen
Mord oder Totschlag am Beziehungs- oder Sexualpartner (Intimizide) erfolgt meist in etablierten Partnerschaften, seltener in noch nicht etablierten, flüchtigen oder sporadischen intimen Beziehungen.
Auch andere familiäre Beziehungen unterliegen tödlichen Gefahren. Die nachfolgenden Tötungsformen erfolgen häufig "im Stillen".
Kindstötungen
Unter diese fallen einerseits die Tötung des Neugeborenen (Neonatizid), andererseits andere Formen des Tötens eines Kindes (Infanticide), insbesondere durch passives Unterlassen oder Vernachlässigen des Kindes. Häufige Vorboten solcher Taten sind depressive Zustände der späteren Täterin/des Täters.
Familienmorde
Das Auslöschen der Familie (Familizide/Family Annihilation) geschieht - oft vor dem Hintergrund langdauernder Partnerschafts- oder Trennungskonflikte - meist durch das männliche Familienoberhaupt, welches nach der Tötung häufig Selbstmord begeht („erweiterter Suizid“).
Die immer wieder vorkommenden Familienmorde zeigen auf, wie wichtig soziale Aufmerksamkeit, fachliche Hilfestellungen und ein früh einsetzendes, strukturiertes Fall- und Konfliktmanagements zugunsten einer wirksamen Prävention solcher Taten sind.
Der präventive und interventionsstärkende Beitrag von psychologisch und forensisch tätigen BeraterInnen kann sein, bei Beobachtung von gefährlich werdenden Krisenlagen frühzeitig nähere Abklärungen zu tätigen und Gefährdungsmeldungen zu unterstützen oder einzuleiten.
Zusammenfassung zu Tötungdelikten:
Die Mehrfachtötung hat einen individuellen, interaktionellen und gesellschaftlichen Bezug. Die mörderische Tat ist ein
Selbstzeugnis des Täters und eine Botschaft an die Gesellschaft.
Die Komplexität des mörderischen Gewaltentstehungsprozesses wird im nächsten Kapitel in einem Modell (FEM) von Dr. Karl Weilbach verkürzt skizziert.